Klaus sent me the story of his visit to Pandora's 84 and kindly allowed me to publish it...
Post-Punk war dunkel, mystisch und versprach dadurch Tiefsinn, ohne dass man eindringen musste, der Tanz Ausdruck phlegmatischer Melancholie. Eine religiöse Inszenierung. Das dazu gehörige Live-Theater fand in Rotterdam statt und nannte sich "Pandora's Box". In jenem Jahr sollten The Fall auftreten, außerdem Psychic TV, Johnny Thunders, John Cale und Me & the Heat. Dort hinzufahren war eine jener "spontanen Aktionen", zu denen junge Menschen zuweilen geneigt sind. Ich überredete Sven - den ich nur noch selten sah, weil er den Wehrdienst absolvierte - mitzukommen, zumal er gerade stolzer Besitzer des kleinen alten grünen DAF 55 VARIOMATIC seiner Mutter war. Ich organisierte Zelt und Autoatlas und viel zu spät ging's am Vorabend los. Bis zur zweiten Kreuzung. Dort setzte ein Lieferwagen zurück, anstatt geradeaus weiterzufahren. Dummerweise küssten sich die Stoßstangen und erst nach dem Austausch der üblichen Daten und dem Ausbau der Stoßstange konnten wir unsere Fahrt fortsetzen. Irgendwo in den Niederlanden nahmen wir die falsche Autobahn, es fing an zu regnen, die Dunkelheit brach vollends herein, die Straße wurde immer mehrspuriger und endete im Stau vor einer Hubbrücke. Mittlerweile hatten wir die Orientierung völlig verloren, nehmen wir Kreuz Den Haag-Zuid oder -Noord und welche Uit? Ich hatte die fixe Idee, "irgendwo hinter Den Haag" über eine Landstraße an der Nordsee entlang Richtung Rotterdam zu fahren, fest davon ausgehend, dass die Niederlande übersät seien von Campingplätzen. Wir kurvten herum, und tatsächlich fanden wir gegen 22 Uhr einen solchen.
Mittlerweile goss es in Strömen, und im matten Schein der 6V-Scheinwerfer bauten wir das uns unbekannte Zelt auf. Völlig durchnässt krochen wir um Mitternacht in unsere Schlafsäcke. Jeder in seinen, was Sven bedauerte. Aber bei aller Kälte, nach einem Gefühlswirrwarr war mir an diesem Abend bestimmt nicht mehr. Sven jammerte noch ein bisschen, aber ich nahm es schon nicht mehr wahr.
Vogelgezwitscher am nächsten Morgen. Wir trauten uns fast nicht, das Zelt zu öffnen, welche Welt würde uns da draußen erwarten? Als der Druck auf die Blase unermesslich wurde, zogen wir vorsichtig den Reißverschluss hoch und wurden eines schier endlosen Zeltplanensees gewahr. Diesen Campingplatz hätten wir nicht verfehlen können! Wir kochten uns ein armseliges Frühstück und verbrachten die nächsten Stunden an den Klippen.
Am Nachmittag machte Sven sich zurecht. Er hatte sich Kleidung und Schminkutensilien seiner Schwester geborgt, und es war nicht zu verleugnen, er sah einfach sexy aus im schwarzen Minirock, den schwarzen Strümpfen, den hochhackigen Schuhen, dem schwarzen Body, dem hochtoupierten Haar, den geheimnisvoll betonten Augen und den verführerisch geschminkten Lippen. Zwei Luftballons perfektionierten die Illusion. Wirklich schade, dass er keine sie war. Zum verlieben. Und gar nicht tuntig.
In Rotterdam lenkten wir den Wagen in ein Parkhaus, Händchen haltend spazierten wir zu McDonald's. Wir waren stolz, wenn sich Jungs zu Sven umschauten, er wegen seiner gelungenen Verkleidung, ich wegen der hübschen jungen Dame in meiner Begleitung. In der Fußgängerzone wimmelte es von Raben, Mönchen und Todesengeln, so dass wir ansonsten nicht weiter auffielen. Wir wussten uns als Teil einer Bewegung, die den bürgerlichen Konventionen gegenüber erhaben, sprich: überlegen war. Unser Auftreten ließ verharren - junger Mann im straighten Anzug mit blauem Haar, junge Dame mit maskulinen Zügen. Das Sich-unterscheiden ließ uns selbstbewusst auftreten. Zwischen Abi und Studium wussten wir nicht, welchen Platz die Gesellschaft uns zugewiesen hatte, also bestimmten wir ihn selbst, zumal noch alles möglich war. Geregeltes Leben, Vorherbestimmtheit, Denken an die Rente lag uns fern, denn wer sich dem gefügt hatte, hatte sich aufgegeben und siechte nur bis zum Tod dahin. Wir aber wollten nicht bis Morgen warten, zwischen dem Heute und der Lebensversicherung musste es doch noch ein paar Kicks geben. Zum Beispiel solche, die bestätigten, dass wir tatsächlich 1984 und nicht 1974 lebten.
Ein solches Ereignis war "Pandora's Box", aber wir wunderten uns, dass vor dem Concertgebouw keine Schlangen warteten. Kein Wunder: "Uitverkocht" informierten Plakate und ließen uns das Blut gefrieren. Sven schaute mich vorwurfsvoll an und meinte herausfordernd, was ich denn jetzt zu tun gedenke.
Ich dachte an den Unfall, die Autobahn, den unablässigen Regen, die Kälte und wusste nur eins: "Ich will da rein". Mit seinem Kajalstift malte ich "2 kaartjes" auf einen Zettel (einem Stimmzettel gegen den Nato-Doppelbeschluss, den ich noch in meiner Hosentasche hatte) und stellte mich neben die Kasse zu den anderen, die ein ähnliches Ansinnen hatten. Ein Punkrocker sprach mich an, aus seinem heiser geflüsterten Holländisch verstand ich, dass er zwei Karten vom Vortag in Form von Gutscheinen besitze. Ich sagte, das mache nichts und erwarb sie für die Hälfte des regulären Preises. Es musste lediglich das mit Kuli geschriebene Datum geändert werden und so lieh ich mir einen an der Kasse. Aus der "22" wurde eine "23". Anstandslos bekamen wir unsere Eintrittskarten.
Von kaum zu verbergender diebischer Freude geschüttelt, betraten wir die Halle. Fassungslos sahen wir die Massen merkwürdiger Menschen. Die gesamte Subkultur Europas schob sich durch Gänge, stieg mehrreihig Treppen hoch und runter, wandelte auf Galerien und flegelte sich auf dem Boden. In der Herrentoilette stand gelbliches Wasser, darin aufgeweichte Papierrollen. Sven hatte da auf der Damentoilette weniger Probleme, auch wenn das Anstehen länger dauerte.
Die Gigs fanden in verschiedenen Sälen gleichzeitig statt. Um möglichst viele Gruppen zu sehen, waren die Besucher in ständiger Bewegung auf den Galerien zwischen den Orten, begleitet von Walgesängen und Wassermusik. John Cale spielte Klavier, das interessierte uns nicht, Johnny Thunders Gitarre, naja, o.k., aber bei Me & the Heat konnte ich mich mal wieder vergessen. Tom Mega war gut drauf, die Flaschen zersplitterten, das Blut lief. Nach seinem Knastaufenthalt führte Tom sein eigenes Resozialisierungsprogramm durch. Fiat Lux kamen nicht schlecht mit flockig hartem Pop, aber dass aus denen nichts werden würde, spürten wir schon. Psychic TV konnten wir nur durch die vollgepfropfte Saaltüre erahnen. Lauter schräges Zeugs.
Marc E. Smith von The Fall stellte in jener Nacht, die schon bis 4 Uhr gedauert hatte, seine Brix zum ersten Mal dem europäischen Festland vor, und ich denke, niemand konnte ihrer Erscheinung widerstehen. Mit teuflischem Vergnügen bearbeitete sie ihre vor den Unterleib gedrückte Gitarre, Indie-Rock hatte eine Göttin, und auch die anderen waren in Hochform und spielten nur Hits. Schon bei "Lay of the Land" pogote der völlig überfüllte Saal im Viereck. Svens Brüste platzten.
Mit dem Gefühl, einem historischen Ereignis beigewohnt zu haben, verließen wir verschwitzt in der Morgendämmerung den Ort des Geschehens. Was konnte jetzt noch kommen? Zum Beispiel, dass das Parkhaus, in dem unser Gefährt stand, geschlossen hatte. Wie jeden Sonntag. Sven wurde hysterisch und keifte herum. Als Mädchen durfte er das endlich einmal, wie er fand. Ich schob ihn erst einmal in den nahe gelegenen Bahnhof, wo sich Hunderte andere Konzertgänger wärmten und auf die ersten Züge warteten. Ihre Gesichter waren bleich, ihre Blicke ausgelaugt, frisierte Haare hingen ungeordnet nach unten. Svens Kosmetik war zerlaufen zu einem wilden Design schwarzer und roter Farbe. Mehr Peter Murphy als Greta Garbo. Er war nun völlig fertig. Niemals würde er aus dieser Stadt wegkommen. Nie wieder würde er ein "Rockkonzert" besuchen.
Nach einiger Zeit fand ich am Parkhaus eine Notklingel, die einen Nachtwächter weckte, der mir für 25 Gulden die Schranke öffnete. Ausnahmsweise.
Übermütig stellte ich das Dafomobil neben dem für Fahrzeuge gesperrten Bahnhofseingang ab, drückte ein paar Mal die markante Hupe, bis Sven aus der Halle gelaufen kam. Wütend. Entgeistert. Zu Atem gekommen, berichtete er: Hatte sich doch – endlich! – ein Junge für ihn interessiert. Manche mögens heiß.
Auszug aus dem Romanfragment "Zeittotschlaeger", copyright Klaus Wittmann
Klaus / Hamburg